BLUE WALL
Blue Wall, 2019
Atelier Johannes Veit
Rede zur Eröffnung der Raum-Installation „Blue Wall“
von Johannes Veit im Atelier, Mannhardtstr. 4, 80538 München, 19 Uhr
In einem der weniger bekannten Märchen der Brüder Grimm, dem „Meerhäschen“, wird von einer Königstochter erzählt, „die hatte in ihrem Schloss hoch unter der Zinne einen Saal mit zwölf Fenstern“ , die in alle Himmelsgegenden gerichtet waren, wobei die Schärfe der Wahrnehmung der Außenwelt von Fenster zu Fenster zunahm, bis sie im letzten, dem zwölften, einen solchen Grad erreichte, dass sie „alles sah, was über und unter der Erde war, und ihr nichts verborgen bleiben konnte.“ Hier ist die Rede von einem uralten Menschheitstraum, der davon handelt, dass es ein Instrument geben könnte, mit dessen Hilfe man die Außenwelt vollständig nach Innen projizieren kann, derart, dass sich die Teile der Welt in einem Innenraum wieder zu einem vollständigen Ganzen zusammensetzen würden. Ein solches Instrument kann die bildende Kunst und insbesondere eine Malerei sein, die bewusst mit dem Raum arbeitet und versucht eine Totalität herzustellen, die der gewöhnlichen Sinneswahrnehmung verborgen bleibt.
Die Verwendung von Spiegeln und Farbkacheln als Gestaltungselemente, als virtuos beherrschtes visuelles Vokabular, besitzt im Werk von Johannes Veit bereits eine jahrzehntelange Tradition. Die Spiegel lassen räumliche Ausschnitte der Umgebung zu einem Teil des Werkes werden. Zwischen den Fliesen oder Kacheln, gänzlich blank oder als Träger einer über die einzelnen Elemente hinausgreifenden Malbewegung mit dem Pinsel oder Spachtel, holen die Spiegel die Außenwelt in die Installation hinein. Auf ihrer Oberfläche wird die klare Unterscheidung von außen und innen aufgelöst und zum Fließen gebracht. Der Spiegel wird so zu einer Metapher der Heterodoxie, der Anders- und Vielstimmigkeit, die zwischen verschiedenen Orten und damit Welten vermittelt.
Johannes Veit, der an der Münchner Kunstakademie bei Franz Nagel und Hans Baschang studiert hat, entwickelte bereits viele Kunstprojekte in Form von Spiegel- und Flieseninstallationen. So den Spiegelraum „Rosegarden“ in der Landshuter Residenz, die Installationen in der St. Jodok Kapelle und in der Spitalkirche Heilig Geist. Im letzten Jahr fanden – in enger Zusammenarbeit mit dem Komponisten Zoltán Barabás – zwei, buchstäblich nachhallende Raum-Musik-Installationen statt. Zuerst in der Passauer St. Anna Kapelle und im September in der Großen Rathausgalerie in Landshut. Nicht vergessen werden soll der „Spiegelturm“, der im August 2014 auf dem Anwesen von Leonhard Bergemann in Velden errichtet wurde – fast genau auf der Grenze zwischen Ober- und Niederbayern. Auch auf Fassaden privater Bauten befinden sich seine unverwechselbaren Spiegel-Installationen. Auf der Fassade der „Klösterle-Apotheke“ in der Münchner Waltherstrasse, auf der Fassade des „Hauses Jaschke“ in Landshut etc.
Wo immer es möglich ist, reagiert Johannes Veit mit seinen Installationen auf die Architektur einer vorgefundenen Raumsituation. Der Begriff „Spiegelkünstler“ ist übrigens viel älter als Sie wahrscheinlich annehmen werden. Geprägt hat ihn der Nürnberger Barockdichter Philipp Harsdörffer im 17. Jahrhundert, der schrieb: „Der Spiegel ist eine Bildung der Unbeständigkeit, indem er, wie die Spiegelkünstler wissen, den Gegenschein bei jedem Augenblick und der geringsten Bewegung verändert.“
Neben dem umgebenden Raum formt auch die Zeit das Werk mit. Auf den Oberflächen der Installationen blitzen Möglichkeiten auf, die sich nie bis zum Ende ausformulieren lassen. Formgebilde und Lichtsituationen treten aus der Potentialität hervor, in der sie im nächsten Moment wieder verschwinden können. Diese Prozesse sind der Zeit unterworfen, sind eingewebt in den Fluss der Zeit. So werden die Pinselspuren zu Farbbewegungen, zu Momentaufnahmen eines künstlerischen Prozesses.
Die Gestaltungselemente, die ein Raster bilden, haben zumeist die Form eines Quadrates. Das Quadrat aber ist eine Urform: In der absoluten Gleichmäßigkeit seiner Seiten kommt es unserem Verlangen nach Symmetrie und Ordnung am meisten entgegen. Die sich wiederholende Verwendung quadratischer Elemente als Bausteine steht mit den Zentrifugalkräften nicht geschlossener oder unregelmäßiger Gesamtformen in einem Spannungsverhältnis. Intuition, Spontaneität und konstruktive Ordnung bilden solchermaßen ein Ganzes, das in einer harmonischen Balance gehalten wird.
Kommen wir endlich zur Farbe. Nicht zuletzt heißt ja die Spiegelarbeit, die sie heute sehen, „Blue Wall“. „Das Licht ist die Sonne, die wir nicht ansehen können, aber wenn sie sich zur Erde, oder zum Menschen neigt, wird der Himmel roth. Blau hält uns in einer gewissen Ehrfurcht, das ist der Vater, und roth ist ordentlich der Mittler zwischen Erde und Himmel; wenn beyde verschwinden, so kommt in der Nacht das Feuer, das ist das Gelbe und der Tröster, der uns gesandt wird – auch der Mond ist ja Gelb.“ Als Philipp Otto Runge im November 1802 diese Bemerkungen über die „Dreieinigkeit“ der Farbe notierte, mussten sie ihren Lesern zwar erläuterungsbedürftig, aber nicht grundsätzlich fremd erscheinen. Johannes Veit beruft sich bei seinen Spiegelwänden, Spiegelböden und Spiegeltürmen nicht auf eine Farballegorese. Seine blauen Farben berühren uns ganz unmittelbar. Meere und Strände ziehen herauf, an denen hinter feinem Dunst das Wasser sich in zarten weißen und grauen Tönen ausbreitet und dunkleres Grau über der Horizontlinie steht wie eine ferne Küste unter hell verschleiertem Himmel. Sommertage, an denen der Strand sandgelb leuchtet und die Bläue von Meer und Himmel den Raum weit öffnet. Oder auch Tage in einem flachen Landstrich. Schwarzes Feld steht gegen das kühle, kompakte Grau eines Himmels im späten Herbst oder zeitigen Frühjahr; Regentage, Dämmerungen. Das Blau des Himmels und des Meeres, die Farbe der Ferne und der Tiefe, der Weite und der Sehnsucht ist eine Farbe von besonderem Rang und besonderer Bedeutung. Auf mittelalterlichen Tafelbildern wurde sie – gefertigt aus gestoßenem Lapislazuli – als Farbe der Transzendenz verwendet. Auch Himmelslandschaften meint man zu erkennen, Sonnenuntergänge im Moment höchster Intensität und in der Dramatik des Verlöschens, wo das Rot die Glut eines erkaltenden Schmelzflusses hat, auf dem die ersten Schlackenwölkchen treiben und wo grüne Schimmer auftreten, bis sie einem rauchigen Blau und Grau weichen werden. Alles ist Gestimmtheit, die sich vielleicht schon im nächsten Augenblick verändert und nicht wiederkehrt.
Johannes Veits farbige Bilder und seine Spiegelwände, aus denen alles Episodische und Illustrative verbannt ist, halten in ihrer, sich jenseits des Bildraums unsichtbar ausdehnenden Horizontallinien und Stringenz der Farbigkeit, das Momenthafte fest. Und es sind schöne und erfüllte Momente.
Prof. Dr. Andreas Kühne